Wo die wirklich wilden Kerle wohnen
Anne Kratzer, 19 Jahre alt, hat im Juni in Schongau ihr Abitur gemacht und verbringt die Zeit bis zu ihrem Psychologiestudium im Oktober in Florianópolis, Brasilien, wo sie in einem Waisenhaus in einem Favela lebt und „spielt“.
Ich lebe in einem Waisenhaus in einem Brasilianischen Favela. 20 Jungs und Mädchen zwischen acht und 17 Jahren leben hier mit einer Köchin, Putzfrauen, verschiedenen „Ecudadores“, Sozialpädagogen und nun auch mir.
Die Jugendlichen sind Waisen oder wurden von ihren Familien vernachlässigt und gewalttätig behandelt. Sexueller Missbrauch scheint in vielen Familien fast auf der Tagesordnung zu stehen. Ich verbringe den Tag damit, den Jungs durch meine „Fußballunkünste“ das Leben zu versüßen und mich von den Mädels abschlabbern zu lassen. Küsschen gehören offensichtlich zum brasilianischen Grundbedürfnis. Genauso wie beherztes Rumschreien, Tanzen und die leidenschaftliche Verfolgung nicht weniger leidenschaftlicher Telenovelas.
Die Jugendlichen hier gehen täglich vier Stunden zur Schule. Außerdem nehmen sie an Projekten teil. Sie können unter bestimmten Auflagen arbeiten oder sich künstlerisch und sportlich betätigten. Sie lernen Capoeira, surfen, turnen, basteln oder spielen Fußball.
Alle hier besitzen die Lebenskunst, sich ihre Lebensfreude und Leichtigkeit trotz sozialer Missstände beizubehalten. Mit Bewunderung sehe ich die Stärke und das Selbstbewusstsein der Jungs und Mädchen. Rafael ist neun Jahre alt. Er ist so traumatisiert, dass er bei seiner Ankunft stumm war. Zuneigung statt Schlägen, wöchentliche Arzt- und Psychiaterbesuche und eine spezielle Schule haben ihm geholfen. Inzwischen kann er wieder sprechen. Die zwölfjährige Letitia ist stark übergewichtig. Wenn wir zusammen Englisch lernen, bin ich oft versucht, laut loszuschreien. Ich habe den Drang, das brasilianische Kultusministerium zu stürmen, denn die öffentlichen Schulen in Brasilien sind absolut ungenügend und werden nur noch von Kindern aus den Favelas besucht. Letitias Vater ist tot. Ihre Mutter, eine Prostituierte, leidet an schweren Depressionen und ist im Krankenhaus. Das Mädchen erfährt keine Unterstützung. Trotzdem gibt sie nicht auf. Voller Energie und Ernst versucht sie, ihre Probleme in den Griff zu bekommen.
Diese Woche ist auch die 15-jährige Larissa zurückgekehrt. Sie war aus dem Haus geflüchtet und lebte monatelang auf der Straße. Nun ist ihr „Ehemann“, elffacher Vater, im Gefängnis und Larissa für einige Zeit hier. Sie gibt ihre zwei Monate alte Tochter hier ab, verbringt den Tag auf der Straße und kommt nach Hause wann es ihr beliebt. Larissa ist geistig zurückgeblieben und frech. Niemand weiß, was er mit ihr machen soll.
Die Namen wurden geändert.
Neueste Kommentare